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Über Kunst im Eiskunstlaufen
Vorbericht zu den Eiskunstlauf-Europameisterschaften in Dortmund

28.1.1983 - 13:00 Uhr - Die Zeit - von Uwe Prieser

Harlekin macht keine neuen Späße
Europameister Norbert Schramm sieht sich zum Kompromiss mit der Konvention gezwungen

Als Norbert Schramm im vergangenen Februar in Lyon Europameister der Eiskunstläufer geworden war, da wurde mit dem Sieger auch der neue Eislauf-Stil der achtziger Jahre gefeiert. Auf den Kunstmaler Toller Cranston, dessen Kür ein fünf Minuten langes bewegliches Bild gewesen war, auf den strengen Ballett-Tänzer John Curry und den Illusionisten Robin Cousins war Norbert Schramm gefolgt - der Harlekin. Kein dummer Hanswurst, sondern einer, der etwas von der schönen alten Commedia dell'arte auf die Eislaufbühne brachte. Wenn Schramm bei den Pirouetten seinen Körper marionettenhaft krümmte, beim Laufen Publikum und Preisrichtern eine Nase zu drehen schien, waren Erfolgsernst und Leistungswille auf heitere Weise aufgelöst.

Noch nicht einmal ein halber Winter ist wieder vorbei, da droht Norbert Schramm schon in der nächsten Woche bei der Europameisterschaft in Dortmund von dem typischen Künstlerlos der Pop-Generation ereilt zu werden: kometenhaft aufgestiegen, überschwänglich gefeiert - und alsbald ausgewechselt, weil die alte Masche abgelaufen ist. Denn der Harlekin auf dem Eis macht keine neuen Späße mehr; vielmehr hat er Kompromisse mit der Konvention geschlossen. Doch was bleibt dann noch vom Harlekin?

Norbert Schramm hat das nicht gewollt, er ist zu den Kompromissen gezwungen worden. Im vergangenen Mai hatte er gemerkt, wie schwer es war, seine schöne, verrückte Kür vom Winter noch einmal neu zu erfinden. Er ist dann auf die Idee gekommen, einen Sprung mit dem Schlittschuh in die Bande zu machen, ist im Elchgang über das Eis geschaukelt, und er hat sich einen knallgelben Küranzug mit einer breiten roten Schärpe angezogen, in dem er sich bei den Pirouetten wie eine rotgelbe Zuckerstange in die Höhe schraubte. Im Herbst wurde ihm klargemacht, dass er auf dem falschen Weg war. Die internationalen Preisrichter lehnten diese Steigerung seiner Harlekinade ab. "Es war nicht meine Absicht, konventioneller zu laufen", sagt er, "aber ich bin mit meiner ersten Kür auf verdammt harte Kritik gestoßen." Im Januar musste er, sich bei der deutschen Meisterschaft fragen lassen, ob der gezähmte Schramm noch der echte Schramm sei. Er hofft es - sicher kann er nicht sein.

Der Harlekin muss damit rechnen, dass er nun aus seinem Komödiantenhimmel fällt, Norbert Schramm wäre dann ein Opfer vor allem des grundsätzlichen Dilemmas des Eiskunstlaufs, das in der Zwischensilbe "Kunst" liegt. Niemand weiß richtig, wie Kunst auf Schlittschuhen auszusehen hat. Darum stellt sich jeder etwas anderes darunter vor. Was als Kunst beurteilt werden soll, wird dabei auf eine Frage des Geschmacks und der Mode reduziert.

Im Eiskunstlauf wird eine Note (A-Note) für den technischen Wert einer Kür vergeben (Schwierigkeit der Sprünge, Exaktheit der Pirouetten, Reinheit des Laufens) und eine zweite Note (B- Note) für den künstlerischen Ausdruck. So hofft man, eine Synthese aus Sport und Kunst herzustellen. Doch im Gegensatz zum Vorbild des Bühnentanzes gibt es im Eiskunstlauf nur verschwommene künstlerische Kriterien. Kunst ist, was gefällt, was gefällig ist, was den Preisrichtern zufällt. So setzt sich Kunst im Eislauf oft nur zufällig durch - wenn Ausnahmeläufer wie Cranston, Curry oder heutzutage die englischen Eistänzer Jayne Torvill und Christopher Dean dem Eiskunstlauf zu einem künstlerischen Selbstverständnis verhelfen, das mit ihrem Rücktritt wieder erlischt. Erlöschen muss, weil die, die im Eiskunstlauf die Richtung bestimmen, die Preisrichter, zwar eine technische, aber durchweg keine künstlerische Ausbildung genossen haben.

Für das Schöne keine Zeit

"Du kannst so viele Faxen machen wie du willst, die zählen doch nur ihre Striche", beklagt Rudi Cerne aus Wanne-Eickel. Die Striche, mit denen die Dreifachsprünge abgehakt werden. Vor einem Jahr vierter der Europameisterschaft, ist Cerne neben dem deutschen Meister Heiko Fischer aus Stuttgart der dritte Läufer der Deutschen Eislauf-Union (DEU), der bei den Europameisterschaften in Dortmund eine Medaille oder gar den Titel gewinnen kann. Doch obwohl Rudi Cerne den klassischen, tänzerischen Laufstil am konsequentesten und dazu mit Eleganz und Strenge vertritt, hat er Kummer mit der B-Note. Der Grund dafür hat mit künstlerischem Ausdruck allerdings nichts zu tun. Cerne beherrscht nicht so viele Dreifachsprünge wie seine Konkurrenten, und er springt sie nicht so sicher.

Karel Fajfr, Trainer von Heiko Fischer und einst des Paares Riegel/Nischwitz, zählt zu der Minderheit, die mit einem künstlerischen Konzept arbeitet. Er sagt: "Wenn die A-Note niedrig ist, kann über die B-Note nicht mehr viel gewonnen werden." Denn in der A-Note werden die konkreten athletischen Taten aufgelistet, summiert und bewertet. Und von dieser sicheren Grundlage aus wird die Punktzahl der B-Note auf dem schwankenden Boden von Ausstrahlung, Harmonie, Musikalität und Originalität schon vorbestimmt.

Oft genug führt diese Praxis die Idee von der Synthese aus Sport und Kunst ad absurdum. Bei der Europameisterschaft des vergangenen Jahres in Lyon lobte jedermann die perfekte Technik und das wahnwitzige Tempo der neuen Paarlaufmeister Sabine Baess/Thassilo Thierbach aus der DDR und bedauerte gleichzeitig, dass für das Schöne, für den tänzerischen Dialog, keine Zeit geblieben sei. Gleichwohl gab das Preisgericht den beiden in der B-Note insgesamt noch zwei Zehntel mehr als in der A-Note für den technischen Wert.

Rudi Cerne erhielt bei der deutschen Meisterschaft kürzlich in Oberstdorf nur eine unwesentlich höhere B-Note als Heiko Fischer. Dabei hat Cerne den gesamten sportlichen Inhalt seiner Kür einem überzeugenden choreographischen Konzept untergeordnet. Bei dem athletischen Heiko Fischer dient die Choreographie hingegen in erster Linie als - wenn auch schön benutztes - Mittel zur Präsentation sportlicher Schwierigkeiten.

Im Damen-Wettbewerb von Oberstdorf erhielt die Europameisterschaftsvierte Claudia Leistner für ihre choreografisch interessantere Kür in der B-Note weniger Punkte als ihre Rivalin Manuela Ruben, die zwar schlicht, aber fehlerlos gelaufen war. Erklärung der internationalen Preisrichterin Erika Schiechtl (München): "Die Claudia ist ja auch zweimal auf dem Hosenboden gesessen." Sowas trübt natürlich den künstlerischen Ausdruck. Norbert Schramm allerdings saß gleich dreimal auf dem Eis und erhielt dennoch eine von derselben Preisrichterin verteidigte höhere B-Note als Cerne und Fischer - nämlich bis 5,9. Da stellt sich die Frage, ob die Richter an diesem Tag bereit gewesen waren, das bis 6,0 reichende Wertungssystem zu sprengen. Denn nach diesem Maßstab hätten sie einem fehlerlos laufenden Schramm wohl 6,2 geben müssen.

Die ersten Vierfachsprünge

Wie stellen sich nun die Läufer selbst auf die Mängel ihres Systems ein? Norbert Schramm sagt, man müsse vor allem ohne Fehler laufen und mit dem Geschmack der Preisrichter Kompromisse machen. Rudi Cerne will mit seinem tänzerischen Stil "bewusst einen Kontrapunkt zu Schramm und zu den Sprungathleten setzen". Vor allem aber: "Man muss laufen, was einem Spaß macht. Nur so kann man seinen Stil finden." Und mit Seitenblick auf seinen befreundeten Rivalen Schramm: "Norbert ist auch erst Norbert geworden, als er alle Vorschriften über den Haufen geworfen hat." Und er werde sich eben keinem Modetrend anschließen.

Einen fünften Dreifachsprung in seine Kür einzubauen, ist der einzige Kompromiss, den Cerne für eine erhöhte Medaillenchance einzugehen bereit ist. Mehr aber nicht: "Manche laufen doch nur noch durch die Gegend und springen. Das finde ich einfach scheußlich." Schramm pflichtet ihm bei: "Die Wettbewerbe werden immer sensationeller werden, aber für das Auge immer trauriger. Der Trend geht zu den Sprüngen." Die ersten Läufer haben bereits im Training begonnen, den Toeloop und Salchow vierfach zu springen.

Zu ihnen gehört auch Heiko Fischer, der ebenfalls mit der unsicheren B-Note seine persönlichen Probleme hat. Jahrelang galt Fischer ausschließlich als Sprungläufer, der für Stil und Eleganz nichts übrig hatte. Das hat sich unter Karel Fajfr grundlegend verändert. "Am Anfang hat mich die Darstellung auf dem Eis nicht interessiert, und dann habe ich mich nicht getraut." Drei Jahre hat Fischer gebraucht, um gegen das Vorurteil der Preisrichter und auch sein eigenes Unbehagen anzukämpfen. Heute scheint er von den drei deutschen Spitzenläufern am besten in der Lage zu sein, die neu heraufziehenden athletischen Herausforderungen mit dem zu verbinden, was man im Eiskunstlauf als Kunst empfindet. Denn am Ende ist so eine Europameisterschaft ja doch ein sportlicher Wettbewerb und keine Ballett-Gala, "Kunst" bleibt bloß eine schöne Zwischensilbe, deren Inhalt alle paar Jahre von Ausnahmeläufern neu definiert und anschließend wieder vergessen wird. Das ist zwar ein Dilemma, aber was wäre die Sport-Operette Eiskunstlauf ohne dies.

QUELLE DIE ZEIT, 28.01.1983 Nr. 05

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